„Pause brauch ich, um zu leben!“, titelte Clemens Haustein vor zwei Jahren in der FAZ (18.10.2023) und seufzte sich aus, nach sechzig Jahren eines „ständig anschwellenden Mahler-Popularitäts-Crescendos“, über die überbordende (bei Haustein: „epidemische“) Anzahl an Aufführungen der Sinfonien von Gustav Mahler. Auch Vorträge, Tagungen und Lehrveranstaltungen zu Mahler sind Legion. Das ist ganz sicher begründet: Mahlers Sinfonien bilden einen Kosmos eigener und kaum je vollständig hörend oder wissenschaftlich zu erschließender Art. Hausteins Fazit, „Mahlers Musik müsste Musikern wie Hörern mittlerweile zu beiden Ohren herauskommen“, braucht man nicht teilen. Mahlers Credo „Die Sinfonie muss wie die Welt sein. Sie muss alles umfassen“ (1907) schließt die Idee der Gattung seit Beethoven auf allen ästhetischen und emotionalen, philosophischen und weltanschaulichen Ebenen idealtypisch auf. „Die Vielstimmigkeit der modernen Welt“, so der Dirigent Iván Fischer, habe Mahler in seinen Sinfonien eingefangen. Aber haben das andere Komponisten der Zeit nicht auch getan? In der Zeit Gustav Mahlers (1885–1910) entfaltet sich die Sinfonie in ganz Europa (und darüber hinaus) zu einem kaum je gekannten Formen-, Besetzungs-, Ausdrucks- und Assoziationsreichtum. Mahler ist das Paradigma – aber eben auch nur ein Paradigma. Es gibt viel zu entdecken.

In diese Jahre fallen die letzten Werke von Brahms und Bruckner oder Tschaikowsky (Čajkovskij) und Dvořák. Es beginnt eine reiche Tradition der Brahms-Nachfolge (darunter Karl Goldmark, Heinrich von Herzogenberg, Robert Fuchs, mit umfangreichem sinfonischen Schaffen etwa der Stuttgarter Johann Joseph Abert, der Schweizer Hans Huber oder der Österreicher Franz Schmidt) und der Bruckner-Nachfolge (Felix Woyrsch, Richard Wetz u.v.a.m.), aber auch der Programmsinfonie im Anschluss an Liszt. Richard Strauss legt erste sinfonische Werke vor. Eigenständige Wege aus dem neunzehnten Jahrhundert gehen in Frankreich (meist mit Einzelwerken) César Franck, Edouard Lalo, Camille Saint-Saëns, Vincent d’Indy, Ernest Chausson oder auch Albert Magnard mit vier Werken, die mit Elementen wie Choral, Marsch, Natur- und Volksmusik Mahler vergleichbar sind. In Italien schreiben Sinfonien Giovanni Sgambati, Ottorino Respighi, Alfredo Casella oder Gian Francesco Malipiero, in England etwa Edward Elgar, Hubert Parry, Charles Villiers Stanford, Ralph Vaughan Williams und William Walton, in Skandinavien Wilhelm Peterson-Berger, Christian Sinding, Carl Nielsen und Rued Langgaard, in Russland Nikolaj Mjaskovskij, Milij Balakirev, Alexandr Glazunov, Vasilij Kalinnikov, Anton Arenskij, Reinhold Glière, Michail Ippolitov-Ivanov, Sergej Ljapunov, Sergej Rachmaninov, Alexandr Skrjabin, Felix Blumenfel’d, in den USA George Whitefield Chadwick, Amy Beach oder Charles Ives, in Polen Zygmunt Noskowski, Mieczysław Karłowicz, Ignacy Jan Paderewski, Karol Szymanowski, in Böhmen Zdeněk Fibich, Josef Bohuslav Foerster oder Josef Suk, in Ungarn Ernő (Ernst von) Dohnányi, in Rumänien George Enescu &c. &c.

Es gibt viel zu entdecken!