Im Jahr 1938 verfasste Theodor W. Adorno eine bitterböse „Glosse über Sibelius“. Das Klangbild des damals in England und Amerika so häufig „wie eine Automarke“ genannten finnischen Komponisten sah für den in die USA emigrierten Frankfurter Soziologen und Apologeten der Neuen Musik so aus: „Es werden, als ‘Themen’, irgendwelche völlig unplastischen und trivialen Tonfolgen aufgestellt, meistens nicht einmal ausharmonisiert, sondern unisono mit Orgelpunkten, liegenden Harmonien und was sonst nur die fünf Notenlinien hergeben, um logischen akkordischen Fortgang zu vermeiden. Diesen Tonfolgen widerfährt sehr früh ein Unglück, etwa wie einem Säugling, der vom Tisch herunterfällt und sich das Rückgrat verletzt. Sie können nicht richtig gehen. Sie bleiben stecken. An einem unvorhergesehenen Punkt bricht die rhythmische Bewegung ab: der Fortgang wird unverständlich. Dann kehren die simplen Tonfolgen wieder; verschoben und verbogen, ohne doch von der Stelle zu kommen.”
Befand der Philosoph der Neuen Musik den „restaurativen“ Strawinsky für würdig, einem fortschrittlichen Schönberg gegenübergestellt zu werden, so verwies er Sibelius auf ein Abstellgleis der Musikgeschichte, wo er für unbeirrbare Avantgardisten immer noch zu stehen scheint. Was aber Adorno als Mängel anführte, kam ein paar Jahrzehnte später in der sogenannten Klangkomposition wieder in Mode und kein ernst zu nehmender Musikwissenschaftler hatte sich über György Ligeti lustig gemacht, der 2003 mit dem Adorno-Preis geehrt wurde.
Im Seminar werden wir Zeit-, Raum- und Klangstrukturen des finnischen Komponisten entdecken, deren individuelle Ausprägung wir in jeder seiner sieben Sinfonien beobachten können: in der die Gattung konstituieren ersten Sinfonie ebenso wie in der lyrisch-pastoralen zweiten, der „neoklassizistischen“ dritten, der radikalen vierten, der finalkonzipierten fünften mit dem berühmten Schwanenthema der Hörner, in der „dorischen“ sechsten und der in ihrer Einsätzigkeit mehrsätzigen siebten Sinfonie. Dabei wird sich zeigen, dass Sibelius, der seinen Vornamen „Johan“ in „Jean“ geändert hat, ein europäischer Komponist der Moderne ist, dessen Musik sich nicht auf finnische Landschaften, Folklore und Wellness-Wohlklang reduzieren lässt.
- Kursleitung: Hubert Mossburger